Mit einem Ruck steht Josef Botzner auf. Zielsicher greift er sich einen Holzstuhl und fängt an, mit ihm zu tanzen. Ein bisschen zittrig vielleicht, aber mit viel Schwung. Botzner dreht und wendet sich im Walzer- Schritt, als befände er sich auf einem Maitanz. Den Stuhl mit dem eingeschnitzten kleinen Herz in der Lehne schwingt er wie eine Partnerin vor sich her. Für einen Moment wird die Vergangenheit lebendig. Als er noch jung war und sich an der Türschwelle zum Wirtshaus voller Nervosität auf die feschen Tänzerinnen freute. „Das Tanzen ist nicht mehr dasselbe. Die Frauen sind heute doch viel selbstständiger. Heute tanzen sie am liebsten alleine“, sagt der gebürtige Grissianer später – und blickt ein wenig traurig in die Kamera.
Ragwurz, Tanz als Freude an der Bewegung
Der Landwirt ist einer von dreizehn Protagonisten, die die Südtiroler Choreografin Veronika Riz in ihrem Film „Ragwurz“ porträtiert. Die Hauptdarsteller, alles Laien, tanzen im luftigen Heustadel, in urigen Stuben oder auf der verschneiten Veranda einer abgelegenen Berghütte. Sie schildern im Film ihre Träume, Besonderheiten des Alltags, die Schwierigkeit, sich an die Schritte zu erinnern, und das Glück, mit der Musik zu verschmelzen. Die Filmemacherin legt Wert darauf, die Tänzer in ihrer ursprünglichen Umgebung zu zeigen. „Ich wollte wissen, wo sich in Südtirol der Tanz überall versteckt. Ich wollte hinter die Kulissen blicken“, erzählt Riz. „In Ragwurz geht es nicht um experimentellen Tanz, sondern um Tanz als Freude an der Bewegung, als Freude am Ausdruck, um Verwandlung, Ausbruch. Und – warum nicht? – um eine Flucht in eine andere Welt“, sagt Riz.
Lust an der Bewegung und die Freude an der Musik
Dabei gelingt der Filmemacherin mit dem 45-minütigen Dokumentarfilm ein einfühlsames, liebevolles und immer wieder auch amüsantes Porträt ihrer Landsleute. Eine professionelle Tanzszene wie in großen Ballungs – räumen gibt es in Südtirol noch nicht. Aber die Lust an der Bewegung und die Freude an der Musik sind ein fester Bestandteil des oft harten Alltags. In den Augen von Mali Höller blitzt der Schalk, wenn sie ihre bestechend einfache Definition von Tanz beschreibt: „Das Tanzen ist wie Knödel drehen: immer rum und rum und rum.“ Wörtlich nehmen das Barbara Thaler Mayr und Werner Mair: Der ausgelassene Walzer mit unzähligen Drehungen endet bei den beiden mit einem Lachanfall und einem Sturz in den Tiefschnee.
Tanzen ist unsere eigene Welt
„Jeder Mensch ist von seiner Umgebung geprägt. Das spiegelt sich auch im Tanz wider“, ist Lothar Gluderer überzeugt. Für ihn und seine Freundin Katrin Paris ist Tanzen mehr als ein Hobby. Sie lebt mit ihrem Vater und ihren Brüdern auf einem Bergbauernhof im abgelegenen Ultental, er im Dorf. Hier oben wirkt die Natur mächtig und einschüchternd. Die Arbeit ist anstrengend und lang. Doch für den Tanz findet das Paar auch nach einem 14-Stunden-Tag die Zeit. „Tanzen ist unsere eigene Welt. Tanzen ist Sein, Leben“, sagt Lothar. Und wenn die einzige ebene Fläche auf dem Hof, die genug Platz bietet, der Heuschober ist, wird eben dort abgerockt. Zu Brian Adams „Summer of 69“ aus dem Ghetto-Blaster tanzen sich die beiden die Seele aus dem Leib. Als Katrin zum Sprung in die spektakuläre Hebefigur ansetzt, zeigt die Kamera Lothars Gesicht in Großaufnahme: So sieht Erfüllung aus. Kurz hält auch der Vater inne, der im Hintergrund das Heu aufschichtet. Im Augenblick des Sprungs fühlen sich die beiden als eine vollkommene Einheit. Und für einen Moment hält auf 2.000 Metern Höhe die Zeit den Atem an.
Tanzen und der Tanz
„Tanzsommer – Bolzano Danza“ ist das größte Tanzfestival in Südtirol. Jeden Sommer stellen nationale und internationale Tanzkompanien ihre neuen Stücke vor. Zeitgleich können Kurse für zeitgenössischen Tanz belegt werden. Das Festival will den interkulturellen Austausch fördern. www.tanzbozen.it
Der Südtiroler oder Meraner Dreier ist ein Volkstanz, der 1944 auf dem Vigiljoch bei Lana aufgezeichnet wurde. Dreiertänze sind bereits aus dem 13. Jh. bekannt und werden in der Regel von einem Tänzer und zwei Tänzerinnen ausgeführt. Der Südtiroler Dreier gehört zum Tanztyp der Ländler, die zu den Werbetänzen zählen. Er ist durch seine Figurenfülle und Schauwirksamkeit gekennzeichnet: Der Tänzer kann seine Geschicklichkeit zeigen und die Tänzerin bringt ihre Anmut zum Ausdruck. www.arge-volkstanz.org/de
Veronika Riz ist Südtirols derzeit vielseitigste und kreativste Choreografin. Sie studierte Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte in Wien. In London und New York tanzte sie mit und bei Stephen Petronio und Meg Stuart. 1985 gründete sie in Bozen ihr Atelier „Dansart“, 2002 erfolgte der Startschuss zur Kompanie „Veronika Riz“. www.veronikariz.it
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