Erst muss laut Almhandbuch Kuhl aber ein Kurs für angehende Viehhüter absolviert werden, danach sollte sich jemand finden, der einem ahnungslosen Städter seine Rinderherde einen ganzen Sommer lang anvertraut.
Und dann kann man endlich – frei nach „Heidi“ – als Almöhi die Seele in den Bergblumen-Wiesen baumeln lassen? – Schön wär’s! Zuerst sollte der angehende Hüter nämlich die Charaktere seiner einzelnen Rindviecher studieren, herausfinden, was Einsteins Relativitätstheorie mit Viehzählen zu tun hat und vor allem – ganz wichtig: kochen lernen! Denn das nächste Fastfood – Restaurant, nachdem sich der verwöhnte Wiener sehnt, liegt in einem anderen Universum, Tiefkühlpizza spielt’s nicht in einer Hütte ohne Strom. Und beim anfangs etwas übergewichtigen Hirten können die besorgten Einheimischen schon nach den ersten Wochen die Rippen zählen.
Das lernfähigen Stadtei
Aber: Aller Anfang ist bekanntlich schwer. Und nachdem der Buchautor ein paar Mal nachts aufwacht, weil er seine Hände von der täglichen, harten Melkarbeit nicht mehr spürt und dabei Bekanntschaft mit der Hausmaus „Hannibal“ macht, kommt kurz vor der Verzweiflung irgendwann auch die Milchkuh auf Zurufen angetrottet, die zwei frei laufenden Hausschweine beginnen die Aufgaben von Hirtenhunden zu übernehmen, und die misstrauischen einheimischen Bauern haben schließlich auch ihre Freude mit dem lernfähigen „Stadtei“.
Mit der Zeit wird aus Gras Milch
sagt ein schlaues altes Senner-Sprichwort. Und so gelingen dem Neo-Hirten nach mehreren Fehlversuchen seine eigene Butter und sein selbst gemachter Käse, er spielt mit der Jungviehherde Stromschlag – Poker (und zieht den Kürzeren) und bringt schließlich gemeinsam mit seiner Freundin ganz ohne Tierarzt sogar ein Kälbchen auf die Welt. Klein Rosa entwickelt sich nach einer anfänglichen Trinkschwäche zu einem kräftigen, ausgeschlafenen Racker, der sich sehr schnell in der großen Welt über dem Gailtal zurechtfindet und seine Zieheltern ordentlich auf Trab hält.
Das Parfum (Kapitel aus Kuhl, das Almhandbuch für Stadtmenschen)
„Schade um die Hose“, denke ich mir im ersten Moment, als mir bei der Mittagsjause nach drei Wochen Viehhüten, Holzhacken, Wandern und Melken eine ölige Pfefferoni in den Schoß fällt. Aber, als ich die abtrünnige Schote aufhebe, um den Schaden zu begutachten, ändere ich sehr schnell meine Meinung: Schade um die Pfefferoni…
Von allen Dingen, die man wirklich nachhaltig über die Sommermonate auf einer abgelegenen Alm vermisst, kommt gleich nach Frau, Freundin oder Spielgefährtin die Waschmaschine auf Platz 2. Ab und zu einmal ein paar Socken oder das starre T-Shirt im Handwaschbecken mit Seife durchzudrücken ist nicht das Problem. Aber eigentlich müsste man das fast jeden Tag machen, wenn man im ständigen Ringen mit der Natur den übertriebenen Sauberkeitspegel der Stadtwelt beibehalten möchte. Man kann nun einmal am Berg nicht jeden Tag die Kleidung wechseln, nur weil man beim Melken ein paar Spritzer Kuhmilch oder beim Schaufeln etwas Mist abbekommen hat. Außerdem: Wenn man für ein Waschbecken voll heißem Wasser erst einmal Holz hacken und Feuer machen muss, statt einfach nur die Fernwärmeleitung aufzudrehen, dann überlegt man sich’s. Und wenn das T-Shirt schon ein paar Mal beim Viehtreiben in der Sommerhitze dabei war, ansonsten aber noch ganz gut aussieht? Na und? Sieht eh keiner. Und so entwickelt sich fast wie von selbst das System des 3-Phasen-Hemds:
Phase 1: Das Hemd ist frisch, duftet nach künstlichen Pfirsichblüten und wird beim Frühstück und am Abend bei der Jause in der Kuchl getragen. Für den Viehhüter wird das Anziehen eines so frischen Hemdes nach vielen Wochen auf der Alm zu einem ähnlich feierlichen Ritual, vergleichbar mit dem Gefühl, wenn sich ein Stadtmensch mit Anzug und Krawatte so richtig in Schale wirft.
Phase 2: Das Hemd duftet bereits deutlich nach Heu, Stall und ein paar anderen Dingen, weist erste kriminaltechnisch nachweisbare Spuren von Kuhhaar auf und wird daher zum Viehtreiben, Kühezählen und Pilzesuchen eingesetzt. Etwaige Gäste kann man damit ohne weiteres noch draußen am Jausentisch empfangen. Für den Viehhüter ist das Hemd der Phase 2 wie seine zweite Haut. Er fühlt sich darin als Teil der Alm und wird von den Fliegen und Wespen teilweise auch schon als solcher erkannt.
Phase 3: Das T-Shirt wird feierlich zum Melk- und Mist-Hemd ernannt. Es trägt wesentlich dazu bei, dass die Hausschweine ihrem Herrl morgens zugrunzen oder die Welle machen und darf in der Früh und nachmittags im Stall bei der richtig ehrlichen Handarbeit dabei sein. Der Viehhüter macht sich mit diesem Hemd gerne den Spaß, schnöselige Halbschuh-Besucher aus der Stadt mit einer angeblich traditionellen Alm-Umarmung willkommen zu heißen. Wichtig ist hier aber vor allem, dass er das Ende von Phase 3 rechtzeitig erkennt…
Was passiert, wenn der Endzeitpunkt von Phase 3 vom Viehhüter nicht rechtzeitig erkannt wird, wäre allein schon eine ganze Universum-Sendung wert. Je nach Mischung ist ein solches T-Shirt nämlich in der Lage, stolzen 150-Kilo-Schweinen infantiles Ferkelgehabe zu entlocken und friedlich im Stall schlummernde Fledermäuse zu panikartigen Tagesflügen zu bewegen. Angeblich führt ein heimischer Mineralölkonzern in einer versteckten Tiroler Bergschlucht bereits Experimente durch, um zu testen, ob die aus einem solchen T-Shirt gewonnenen Dämpfe nicht als erneuerbare Energiequelle der Zukunft genützt werden könnten.
Ich selbst habe das zu lange Tragen eines „Phase-3-Hemds“ einmal beinahe mit dem Leben bezahlt. Nichts Böses ahnend gehe ich an einem schönen Juli-Morgen, ein Liedchen trällernd zu meiner Viehherde auf der Hochalm. Ich gebe den anwesenden Mädels ihre Tagesration Salz, spaziere gemütlich durch ihre Reihen und bin gerade dabei, sie zum dritten Mal zu zählen, als ich direkt hinter mir ein ungewohntes Geräusch höre…
Hier muss ich kurz einschieben, dass man als Hirte schnell lernt, immer auch ein wachsames „akustisches Auge“ nach hinten zu werfen. Wenn nämlich eine der behörnten Damen das Gefühl hat, beim Salzen zu kurz gekommen zu sein, kommt es vor, dass sie den Hüter von hinten anstupst, um ihn auf seinen Fehler aufmerksam zu machen. Oder sie wird selbst von einer anderen Kuh angestupst. Beides kann für den Hirten mit üblen Rückenverletzungen enden.
Mich verfolgt also an diesem Morgen mit Kuhschweif-Abstand eine der üblichen Verdächtigen: eine lästige, eindeutig von Bauernkindern verhätschelte Pinzgauerin ohne Hörner. Plötzlich dieses Geräusch. Irgendwie ist es vertraut, aber in dem Moment auch seltsam alarmierend, weil es gerade jetzt einfach nicht passt. In Sekundenbruchteilen schaffen meine ansatzweise bereits vorhandenen Viehhüter-Instinkte aber Gott sei dank eine korrekte Interpretation: Es ist das gleiche schnelle Stampfen, das meine Damen machen, wenn sie einander mangels Stier gegenseitig aufreiten. Beim blitzartigen Zurseitewerfen sehe ich noch aus dem Augenwinkel, wie das 500-Kilo-Tier vorn in die Höhe geht und dann – zum Glück – ins Leere fällt.
Blöde Kuh! In der an diesem Morgen herrschenden, aufgekratzten Herden-Flirtlaune muss sie mich mit einer ihrer Turtel-Freundinnen verwechselt haben und sich selbst mit einem Stier. Seit diesem Vorfall tausche ich jetzt doch in etwas kürzeren Intervallen mein T-Shirt aus. Lieber einmal mehr an der Waschrumpel stehen – auch wenn’s noch so lästig ist – als mit gebrochenem Kreuz die Viehhüter-Karriere im Spital besiegeln.
Diese und andere amüsant – ehrliche Pannen-Geschichten können Sie im Taschenbuch „Kuhl! – Das Almhandbuch für Stadtmenschen“ lesen. Das Taschenbuch von Tobias Micke (Knaur-Verlag, ISBN 978-3-426-78059-6) ist um 9,95 Euro im Buchhandel oder im Internet bei www.amazon.de erhältlich. Neben einem kleinen Sprachkurs in „Rindisch“, einer Kuh-Landekarte für Fliegen, zünftigen Almwitzen, Überlebensrezepten und dem Kapitel „Berg der Erkenntnis“ für ausgebrannte Manager informiert im Anhang auch ein ausführlicher Alm-Anach von A bis Z über Fachbegriffe aus der Bauern- und Viehhüterwelt, die einem auch als Sommerurlauber in den Bergen nicht fremd sein sollten. Außerdem dürfte es das erste Taschenbuch sein, das – für den Notfallseinsatz auf der Weide – tatsächlich „Muuh!“ machen kann. Natürlich dürfen in einem solchen Buch nebst „Hirtentipps für den Alltag“ auch die allwissenden Bauernregeln nicht fehlen. Eine Kostprobe?„Wächst ein Kaktus auf der Wiese, steckt das Wetter in der Krise.“ oder „Riecht der Viehhüter nach Stall, darf er nicht zum Opernball.“